Was ist übersetzen?

Übersetzen ist unmöglich! Ist es nicht?1

Wieso das, wo doch die Welt ohne Übersetzungen (und Übersetzer) wohl kaum funktionieren würde?

Die wichtige Rolle des Übersetzers haben schon viele Schriftsteller erkannt.

Günter Grass: „Übersetzer sind die genauesten Leser. Sie nehmen den Autor beim Wort. Unerbittlich sind sie ihm auf der Spur. Sie wollen es genau wissen. Sie penetrieren den Autor.“2 Er nannte sie auch seine „engsten Verwandten“.

180 Jahre früher hat Goethe die Übersetzerarbeit etwas anders und poetischer gewürdigt:

„Und so ist jeder Uebersetzer anzusehen, daß er sich als Vermittler dieses allgemein geistigen Handelns bemüht, und den Wechseltausch zu befördern sich zum Geschäft macht. Denn was man auch von der Unzulänglichkeit des Uebersetzens sagen mag, so ist und bleibt es doch eines der wichtigsten und würdigsten Geschäfte in dem allgemeinen Weltverkehr.“3

Auch im Faust, der Tragödie erster Teil, schildert er in einer Passage das Ringen des Übersetzers mit diesen „Unzulänglichkeiten“ – das richtige Wort zu finden – speziell mit dem Beginn des Johannes-Evangeliums „Im Anfang war das Wort“:


Geschrieben steht: 'Im Anfang war das Wort!'
Hier stock' ich schon! Wer hilft mir weiter fort?
Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,
Ich muss es anders übersetzen,
Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin.
Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn.
Bedenke wohl die erste Zeile,
Dass deine Feder sich nicht übereile!
Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft?
Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft!
Doch, auch indem ich dieses niederschreibe,
Schon warnt mich was, Dass ich dabei nicht bleibe.
Mir hilft der Geist! Auf einmal seh' ich Rat
Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!

Als Übersetzer beobachte ich ständig die deutsche und die englische Sprache und ziehe aus diesen Beobachtungen Schlüsse, die sich zu einem Bild darüber formen, was Übersetzen für mich bedeutet.
Die eigene Sprache kennt man ja von Kindheit an. Und so macht man sich über ihre Wörter, über deren Herkunft und Geschichte kaum Gedanken. Ab der ersten Fremdsprache aber beginnt man, Sprache(n) und Wörter bewusst wahrzunehmen, Verbindungen und Assoziationen herzustellen.
Zuweilen dämmert einem dann die geschichtlich gesehen falsche Verwendung einiger Begriffe. Hier einige Beispiele:

Attentäter – „Attentat“ hat nichts mit „Tat“ zu tun, sondern ist ein Lehnwort aus dem Lateinischen, attentatum, „das Versuchte“ (engl. to attempt, frz. attempter – versuchen). So hat der Attentäter streng genommen den Anschlag nur versucht, aber keinen Erfolg gehabt. Den heutigen Attentatsopfern bliebe dies nur zu wünschen.

Antisemitisch: Die Semiten sind benannt nach Noahs ältestem Sohn Sem. Sie bezeichnen die Völkergruppe, die eine semitische Sprache spricht, und ihr gehören neben Juden auch Äthiopier, Araber, Hebräer und Syrer an. Doch diese Völker wollen heute ungern in einen Topf geworfen werden.

FAZIT:
Übersetzen ist etwas mehr als das Nachschlagen in Wörterbüchern.

zurück

nach oben

Meine Vorstellung davon, was Übersetzen bedeutet

Mit dem Begriff „Übersetzen“ verbinde ich schon seit längerer Zeit das Bild eines Fährmanns, der ständig zwischen zwei Welten hin und her fährt, zwischen zwei Ufern „über-setzt“. Statt Passagiere und Fahrzeuge transportiert der Übersetzer-Fährmann jedoch Begriffe, Bedeutungen, Konnotationen und Gedankenwelten zwischen unterschiedlichen Kulturen hin und her und fördert bzw. befördert so im besten Falle das gegenseitige Verstehen. Um das Bild weiterzuspinnen: Es kommt auch zu Querströmungen und der „Über-Setzer“ landet gelegentlich, wenn er sie nicht wahrnimmt, an einer ganz anderen Stelle – und produziert eine der gefürchteten „Übelsetzungen“.

Früher gab es für das Übersetzen auch den Begriff „Übertragung“, ebenfalls ein schönes Bild: der Übersetzer nicht als geistig, sondern als körperlich Tätiger.

Heute wird von Translationswissenschaft gesprochen. Die Translation ist ein in der Mathematik lange etablierter Begriff und bedeutet Parallelverschiebung, das heißt eine Bewegung einer geometrischen Figur, ohne sie zu drehen oder zu verzerren oder ihre Größe zu verändern. Ist das nicht eine gute Analogie für den Idealfall einer Wort-„Translation“?

Der Verwandtheitsgrad von Kulturen ist üblicherweise proportional zu ihrer geografischen Nähe, weil Menschen und Völker, aus Gründen des Klimas, des Glaubens und der Landnahme oder Kolonialisierung, schon seit Jahrtausenden wandern und dabei ihre Sprache, ihre Werkzeuge, ihre Essgewohnheiten, Sitten, Gebräuche und Werte- und Rechtsvorstellungen aus ihrer alten Heimat in die neue Heimat und das aufnehmende Volk mitnehmen.
Wie Wörter zwischen Kulturen wandern, fasziniert mich seit eh und je. Zum Beispiel liegt nahe, dass das englische belfry4 mit bells – Glocken – zu tun hat und also ein Glockenturm ist. Dies ist nicht falsch, doch ist das Wort über das Mittelfranzösische berfrey (heute beffroi) eingewandert, das wiederum seine Wurzel im deutschen Bergfried hat. Von wegen Glocken!

Und das englische town leitet sich ab von dem deutschen Zaun. Irgendwie naheliegend!

Dieses Wandern, das die Herkunft der Wörter verschleiert, ist als Verballhornen oder Ballhornisieren5 bekannt. Weitere Beispiele? Muckefuck kommt von frz. mocca faux, falscher Mokka, todschick von frz. tout chique, ganz schick.

Sprachgrenzen trennen nicht nur, sie verbinden auch.

So zum Beispiel geht man in Norddeutschland viel schneller zum „Du“ über als in Süddeutschland, was der geografischen Nähe zu den skandinavischen Ländern und Großbritannien entspricht, wo so gut wie kein Unterschied zwischen der formellen und der informellen Anredeform existiert. In München hingegen ist eher die Nähe zu Italien zu spüren, in der Lebensart und auch bei bestimmten Wörtern.

FAZIT:
Es ist faszinierend, sich eingehend mit Sprache(n) zu beschäftigen.

zurück

nach oben

Sprachliche Fallstricke beim Übersetzen

Diese Nähe bringt eine gewisse Vertrautheit mit dem anderssprachigen Nachbarn mit sich, was einerseits die Aufgabe erleichtert, zwischen benachbarten und verwandten Sprachen zu übersetzen, andererseits aber auch die Gefahr der „falschen Freunde“ birgt. Das sind Wortpaare, die tatsächlich oder nur scheinbar die gleiche Wurzel haben und bei denen ein Laie schnell in die Falle tappt, ein gleich klingendes Wort für die Übersetzung zu verwenden.

So wird etwa berichtet, dass ein Diplomat eines skandinavischen Landes bei Verhandlungen, die auf Englisch geführt wurden, meinte, auf einen Dolmetscher verzichten zu können. Zu einem Zeitpunkt sagte er dem Sinne nach „we will eventually sign the treaty“. In seiner Sprache hat „eventuell“ die gleiche Bedeutung wie im Deutschen, nämlich „möglicherweise“, und in diesem Sinne verwendete er „eventually“ im Englischen, wo es aber „schließlich, letztendlich“ bedeutet. So stand also nicht das Ob der Unterzeichnung in Frage, sondern das Wann. Der Verhandlungsführer fragte immer wieder, und zunehmend genervt, wann der Diplomat denn unterzeichnen würde. Die Antwort war immer wieder das falsche „eventually“. Dies soll zu kleinen Verstimmungen geführt haben.
Die Marskanäle: die ersten Berichte kamen aus Italien und sprachen von „canali“, was natürliche Rinne wie etwa Flussläufe bedeutet, aber im Englischen als „canals“ übersetzt wurde, menschengemachte Kanäle (Grand Union Canal, Suez Canal usw.), anstatt von der Natur geformte „channels“ (the English Channel), wodurch dann die Vorstellung in die Welt gesetzt wurde, es handele sich um künstliche Bewässerungskanäle einer anderen Zivilisation.

Auch der „historische Rucksack“ ist manchmal zu berücksichtigen. Ein Schriftsteller könnte absichtlich das Wort „Bürgersteig“ verwenden, nicht Gehweg oder Trottoir. Und was steckt da nicht an Kulturgeschichte alles dahinter!
Die Fallstricke manifestieren sich sogar in der Kunst: Viele Besucher von alten Kirchen werden sich über eine Darstellung eines Teufels mit Hörnern gewundert haben. Nur handelt es sich nicht um den Teufel (gr. diabolos – Durcheinanderwerfer), sondern, Sie haben es schon geahnt, um eine Fehlübersetzung. Im Hebräischen ist das Wort für „strahlend“ – nämlich wie Moses mit den Gesetzestafeln vom Berg Sinai herunterstieg, identisch mit „Hörner haben“.

So etwa, als wolle man, weil es so ähnlich klingt, eine technische „Feder“ mit „feather“ (Vogelfeder) statt mit „spring“ übersetzen oder „craft“ (u. a. Kunsthandwerk) mit Kraft.

FAZIT:
Eine gute Vertrautheit des Übersetzers mit der Ausgangssprache wie auch mit der Zielsprache zahlt sich aus.

zurück

nach oben

Kulturelle Fallstricke, nicht nur beim Übersetzen

Ein weiteres Beispiel: John Simpson, der langjährige und sehr bekannte BBC-Journalist, berichtete aus Saddam Husseins Irak, einem Land mit strenger Pressezensur, die aber nicht erwähnt werden durfte. In seinem Bericht über eine staatlich organisierte Demonstration verwendete er die Formulierung „they are going through the motions“. Die Zensoren kannten diesen Ausdruck nicht, und er erklärte das ihnen mit „motions, movements, Bewegungen – sie laufen halt herum und werfen ihre Arme in die Luft“, obwohl er in Wirklichkeit bedeutet, etwas ohne Überzeugung zu machen, einfach mechanisch, der Form halber. Und so ging der Beitrag durch und wurde ausgestrahlt, dank der Unkenntnis der Zensoren über die Feinheiten der englischen Sprache.6

In der Mongolei soll der Begriff des Engels unbekannt sein. Wie soll also ein Übersetzer vorgehen, wenn er auf „Engelshaar“ stößt? Er kann den Begriff erklären oder umschreiben. Er kann auch den Ausdruck einfach beibehalten, wie Döner oder Sushi – wer weiß schon, was diese in der Originalsprache bedeuten?

Noch extremer ist folgendes Beispiel: Berlin startete eine Goodwill-Kampagne in Afghanistan – natürlich mit dem Berliner Bären. Ihr soll kein so großer Erfolg beschieden gewesen sein, aus dem einfachen Grund: Der Bär ist in unserem Kulturkreis emotional positiv besetzt (wohl jedes Kind hatte mal einen Teddy-Bär; oder man erinnere sich an Knut!), In Afghanistan aber genießt er etwa das Ansehen, das bei uns ein Schwein hat (m. E. zu Unrecht).

Wörter und Begriffe sind für den Einzelnen mit einer enormen Palette an Assoziationen und Erinnerungen behaftet. Oftmals kann man von einer Wolke sprechen, die unmöglich scharf abgegrenzt werden kann. Und sogar in der eigenen Sprache hat jeder seine eigene Bedeutungswolke um Wörter herum, die das Ergebnis der eigenen Geschichte und Erlebnisse ist und sich deshalb von der Wolke der anderen unterscheidet. Das erschwert die Kommunikation und führt zu Missverständnissen, gerade weil man meint, doch die gleiche Sprache zu sprechen.

FAZIT:
Eine gute Vertrautheit des Übersetzers auch mit der Kultur der Ausgangssprache und der Zielsprache ist wünschenswert.

zurück

nach oben

Zusammenhang – Zusammenhang – Zusammenhang

Wenn der Chef die Anweisung erteilt „der Lehrling muss gehen“, kann er „Gehen“ im Gegensatz zu „Fahren“ meinen. Vom Zuhörer wird aber vielleicht ausgelegt, der Lehrling solle gefeuert werden.

In einem Mordprozess in England vor einigen Jahrzehnten stellte sich eine absolut zentrale Frage: Was hatte Gangster A wohl gemeint, als er seinem Kumpel B, der eine Pistole hielt und von einem Polizisten verfolgt wurde, zurief „give it him“ (Gib sie ihm). Die Doppeldeutigkeit findet sich sogar im Deutschen. A behauptete, B aufgefordert zu haben, die Pistole abzugeben, B aber verstand, er solle den Polizisten umlegen. Ein tödliches Missverständnis. Oder eine Falschaussage zur Rettung des eigenen Kopfes?

Increa

FAZIT:
Der Beitrag eines Kunden zu einer möglichst korrekten Übersetzung besteht darin, dem Übersetzer Hintergrundmaterial zur Verfügung zu stellen wie Terminologielisten, ähnliche Texte, Kataloge und alles sonst noch Brauchbare, aus denen der Übersetzer die richtigen Zusammenhänge erkennen kann.

zurück

nach oben

Schlußüberlegung

Die Liste ließe sich beliebig verlängern – von den Hörnern des Moses über die Lieferung von Mais aus den USA nach Deutschland nach dem 2. Weltkrieg anstelle von Weizen oder Roggen7, zu pikanten Übersetzungsfehlern in der Werbung bis hin zu Flugzeugabstürzen.

George D. Gopen und Judith A. Swan schreiben in The Science of Scientific Writing (hier übersetzt – Original in der Fußnote):

„Wir können nicht erreichen, dass auch nur ein einziger Satz eine und nur eine Bedeutung hat; wir können nur die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass eine große Mehrzahl von Lesern dazu neigen wird, unsere Ausführungen gemäß unseren Absichten zu interpretieren.“ 8

Und dann soll ein Übersetzer oder Dolmetscher, wie es von einem Oberlandesgericht gefordert worden sein soll, wortwörtlich übersetzen?

Kommunikationsprobleme zwischen Sprachen und Kulturen können sich eigentlich nur potenzieren. Man denke daran, dass sich Kulturen heute neben Referenzen auf Märchen und Bücher in großem Maße durch Referenzen auf Fernsehsendungen und Kinofilme sowie Wortspielereien als Allgemeinwissen usw. definieren. Manche sind übernational, aber viele nur national. Ganz zu schweigen von Problemen, die entstehen durch: regionale Unterschiede, Klassenunterschiede, Fachsprachen, idiomatische Ausdruckweise, Körpersprache und Zeichensprache usw. Dann gibt es noch stark unterschiedliche Verhaltensweisen, mit denen man sich in fremden Kulturen auch stark in die Nesseln setzen kann. Diese tauchen alle in den zu übersetzenden Quelltexten auf, sogar in den technischen.

Wer weiter schmunzeln möchte, dem sei http://www.uebersetzungsfehler.com empfohlen.

Für eine großartige Ausstellung, die in Berlin und Frankfurt am Main zu sehen war, erschien ein Band (Bild nebenstehend), der diese Aspekte in vielen Artikeln auf gut lesbare Weise beleuchtet.9

FAZIT:
Okay, Übersetzen ist wohl doch nicht ganz unmöglich. Aber etwas Hexerei ist vielleicht doch im Spiel?

Kleiner Scherz am Ende:
Man kann es ja auch mal mit Maschinen-Übersetzung oder Babelfish probieren! Ist viel billiger als ein Übersetzer und kann, sofern es entdeckt wird, einige Publizität garantieren.

zurück

nach oben

 

1 Aber so, wie die Hummel fliegt, obwohl dies aerodynamisch eigentlich unmöglich sein soll, wird natürlich dennoch übersetzt.

2 Es gibt versch. Abwandlungen, u. a. Focus 18.12.2006; http://www.ir-bremen.de/imperia/md/content/ggras/pm_rede_fink.pdf

3 Goethe in Carlyle, 20. Juli 1827, nachgelassene Werke, Band 5, Cotta, Stuttgart und Tübingen, Nekrolog des deutschen Gil-Blas, Seite 256

4 wegen einer Diskussion der richtigen Bedeutung siehe http://dict.leo.org/ unter belfry und Forumsdiskussionen

5 Nach Johann Bal(l)horn d.J., der 1586 eine Ausgabe des Lübecker Stadtrechts verschlimmbessert haben soll.

6 Nachzulesen bei Google +"john simpson" +"going through the motions", z. B. unter http://www.theage.com.au/articles/2003/12/09/1070732183332.html

7 Der amerikanische Militärgouverneur, General Clay, erhielt auf seine Frage, was denn Deutschland zur Behebung der Lebensmittelkrise benötige, die Antwort „Korn“, was der Übersetzer als „corn“ weitergab, eben Mais, was die Deutschen eher als Hühnerfutter betrachteten. Nachzulesen z.B.: in http://www.zeit.de/1996/24/C_A_R_E_fuer_Deutschland?page=1

8 “We cannot succeed in making even a single sentence mean one and only one thing; we can only increase the odds that a large majority of readers will tend to interpret our discourse according to our intentions.”

9 Missverständnisse – Stolpersteine der Kommunikation. Edition Braus, ISBN 0978-3-89904-311-2, ca. € 35


Navigation